15

 

Fast war es, als sei er nie fort gewesen. Rio stand im Techniklabor des Hauptquartiers, und Lucan, Gideon und Tegan umringten ihn. Alle hatten ihn mit Handschlag begrüßt und brachten ihm nichts als ehrliche Freundschaft und Vertrauen entgegen.

Tegans Händedruck hatte am längsten gedauert, und Rio wusste, dass der steinerne Krieger mit dem lohfarbenen Haar und den smaragdgrünen Augen fähig war, seine Schuldgefühle und seine Unsicherheit durch den Kontakt ihrer ineinander verschlungenen Hände zu lesen. Das war Tegans Gabe, wahre Emotionen übertrugen sich ihm durch Berührung.

Er schüttelte fast unmerklich den Kopf. „Scheiße passiert uns allen, Mann. Und weiß Gott, wir alle haben unsere persönlichen Dämonen, die an ihren Ketten zerren. Hier ist keiner, der den ersten Stein werfen kann. Kapiert?“

Tegan ließ seine Hand los, und Rio nickte. Als er Gideon Dylans silberne Schultertasche reichte, warf er einen Blick in den hinteren Teil des Labors, wo Dante und Chase vor ihrer nächtlichen Patrouille ihre Waffen reinigten. Dante nickte ihm mit dem Kinn zu, doch Chases stählerner Blick sprach Bände. Für ihn war in dieser Sache das letzte Wort noch nicht gesprochen. Kluger Mann. Vermutlich würde er genauso reagieren wie der ehemalige Agent der Dunklen Häfen, wenn der Fall umgekehrt läge und Chase derjenige wäre, der mit stehendem Propeller angeflogen kam und vor einer Bruchlandung gerettet werden musste.

„Wie viel weiß die Frau über uns?“, fragte Lucan.

Neunhundert Jahre alt und Stammesvampir der ersten Generation, konnte der Gründer und fabelhafte Anführer des Ordens den Befehl über den ganzen Raum übernehmen, indem er nur die schwarzen Augenbrauen runzelte. Rio betrachtete ihn als Freund - alle Krieger standen sich so nahe wie Brüder - und hasste es, ihn enttäuscht zu haben.

„Ich habe ihr das Grundlegende erklärt“, erwiderte Rio. „Aber soweit ich sehen kann, glaubt sie es noch nicht.“

Lucan stieß ein Grunzen aus und nickte nachdenklich. „Es ist schon eine Menge zu verarbeiten. Versteht sie den Zweck der Felsengruft?“

„Ich glaube nicht. Sie hörte, wie ich sie Überwinterungskammer nannte, als ich mit Gideon telefoniert habe, aber mehr weiß sie nicht.

Und ich habe weiß Gott nicht vor, sie einzuweihen. Schlimm genug, dass sie das verdammte Ding gesehen hat.“ Rio stieß einen rauen Atemzug aus. „Sie ist klug, Lucan. Lange wird es nicht dauern, bis sie von selbst dahinter kommt.“

„Dann sollten wir besser schnell handeln. Je weniger mögliche Einzelheiten wir später aufzuräumen haben, desto besser“, sagte Lucan. Er sah Gideon an, der Dylans Laptop aufgeklappt auf der Computerkonsole neben sich stehen hatte. „Wie schwer wird es, sich da reinzuhacken und die Bilder zu löschen, die sie über E-Mail verschickt hat, was meinst du?“

„Die Ursprungsdateien auf ihrer Kamera und Festplatte zu löschen ist keine Kunst, das dauert eine halbe Minute.“

„Was ist mit den Bild- und Textdateien der Empfänger?“

Gideon verzog das Gesicht, als berechnete er gerade die Quadratwurzel von Bill Gates' Nettovermögen. „Etwa zehn Minuten, um allen Festplatten auf ihrer Empfängerliste eine virtuelle Abrissbirne zu verpassen. Dreizehn, wenn du es doch gern etwas genauer hättest.“

„Genau oder nicht, das interessiert mich einen Dreck“, sagte Lucan.

„Tu einfach, was du tun musst, um die Bilder und die Textreferenzen darüber zu löschen, was sie auf diesem Berg gefunden hat.“

„Ales klar“, meinte Gideon und nahm sich bereits beide Geräte vor.

„Wir können die Dateien zerstören, aber dann werden wir uns trotzdem noch die Leute vornehmen müssen, mit denen sie wegen der Höhle in Kontakt war“, bemerkte Rio. „Außer dem Arbeitgeber gibt es noch die drei Frauen, mit denen sie unterwegs war, und ihre Mutter.“

„Das werde ich dir überlassen“, sagte Lucan. „Wie du es anstellst, ist mir egal - lass sie ihre Story widerrufen oder mach sie unglaubwürdig oder geh die Leute suchen, denen sie davon erzählt hat, und lösche ihnen das Kurzzeitgedächtnis. Deine Entscheidung, Rio. Aber kümmere dich drum. Ich weiß, dass du es gut machen wirst.“ Er nickte. „Ich gebe dir mein Wort, Lucan. Ich werde das wieder in Ordnung bringen.“

Die Miene des Gen-Eins-Vampirs war ernst, aber dennoch zuversichtlich. „Ich zweifle nicht an dir. Das habe ich nie getan und werde es auch nie tun.“

Lucans Vertrauen in seine Fähigkeiten kam unerwartet und war wie ein Geschenk, mit dem Rio nicht leichtfertig umgehen würde, auch wenn er noch so ein Wrack sein mochte. So viele Jahre lang waren der Orden und die Krieger, die ihren Dienst in ihm taten, sein ganzer Lebenszweck gewesen - selbst noch wichtiger als seine Liebe zu Eva, was mit der Zeit eine leise nagende Verbitterung in ihr hervorgerufen hatte. Rios Ehre war mit jedem Einzelnen dieser Männer verbunden, als wären sie Familienangehörige. Er hatte gelobt, an ihrer Seite zu kämpfen, selbst für sie zu sterben. Er sah sich um, und die grimmigen, mutigen Gesichter der fünf Stammesvampire, von denen er wusste, dass auch wie ihr Leben jederzeit für ihn aufs Spiel setzen würden, ohne Fragen zu stellen, beschämten ihn.

Rio räusperte sich, fühlte sich angesichts dieses fast einstimmigen Willkommens, das seine Brüder ihm bereiteten, befangen. Auf der anderen Seite des Labors glitt die Glastür auf, und Nikolai, Brock und Kade kamen aus dem Korridor herein. Die drei unterhielten sich angeregt, als sie ins Labor kamen; sie verströmten echten Kameradschaftsgeist.

„Hey“, sagte Niko, der Gruß galt niemand Besonderem. Seine eisblauen Augen leuchteten auf, als er Rio erblickte. Dann wandte er sich sofort an Lucan und begann, ihm die Einzelheiten der nächtlichen Streife des Trios zu schildern. „Wir haben einen Rogue unten am Fluss eingeäschert, vor etwa einer Stunde. Der Mistkerl hat gerade seinen letzten Beutezug in einem Müllcontainer ausgeschlafen, als wir ihn erwischt haben.“

„War er einer von Mareks Bluthunden?“, fragte Lucan und bezog sich dabei auf die Roguearmee, die sein eigener Bruder um sich geschart hatte, bis der Orden eingeschritten war. Marek war tot, der Orden hatte ihn ausgeschaltet, aber die übrig gebliebenen Mitglieder seiner Armee waren immer noch Ungeziefer, das beseitigt werden musste.

Nikolai schüttelte den Kopf. „Dieser Blutsauger war kein Kämpfer, nur ein Junkie, der ständig seinen Pegel halten musste. So schnell, wie er sich zersetzt hat, schätze ich, war er erst ein paar Tage aus den Dunklen Häfen raus.“ Der Russe sah an Rio vorbei und warf Dante und Chase ein schiefes Grinsen zu. „Gab's irgendwelche Action in der South Side?“

„Gar keine“, knurrte Chase. „Ging zu viel Zeit dabei drauf, Besorgungen am Flughafen zu erledigen.“ Nikolai grunzte und nahm den Kommentar mit einem Seitenblick in Rios Richtung zur Kenntnis.

„Lang her, Mann. Gut, dich in einem Stück zu sehen.“

Rio kannte ihn zu gut, um nicht zu bemerken, dass Niko sauer auf ihn war. Von all den Ordenskriegern war er es, der als Erster zu seiner Verteidigung herbeieilen würde - ob Rio es verdiente oder nicht. Niko war der Bruder, den Rio nie gehabt hatte. Beide waren im letzten Jahrhundert geboren worden, beide waren dem Orden in Boston in etwa zur selben Zeit beigetreten.

Es war seltsam, dass Niko bei Rios Ankunft nicht im Hauptquartier gewesen war, aber wenn man diesen Vampir und seine Liebe zum Kampf kannte, war er wahrscheinlich sauer, dass man ihn einige Stunden vor Morgendämmerung von seiner Streife abberufen hatte.

Bevor Rio irgendetwas zu seinem alten Freund sagen konnte, hatte Nikolai seine Aufmerksamkeit schon wieder auf Lucan gerichtet. „Der Rogue, den wir heute Nacht fanden, war jung, aber was er von seinem Opfer übrig gelassen hat, sah aus, als wäre es das Werk von mehr als nur einem Vampir. Morgen Nacht würde ich gerne wieder dorthin und ein wenig herumschnüffeln, ob wir nicht doch noch mehr finden.“

Lucan nickte. „Klingt gut.“

Als das geklärt war, drehte sich Niko zu Kade und Brock um. „Jetzt haben wir noch genug Zeit bis Sonnenaufgang, um selbst auf die Jagd zu gehen. Sonst noch jemand durstig?

Kades Wolfsaugen glitzerten wie Quecksilber. „Im North End gibt es einen Schuppen, der die ganze Nacht geöffnet hat. Dort fängt es jetzt gerade an, interessant zu werden. Jede Menge süße junge Dinger, die gepflückt werden wollen.“

„Bin dabei“, meinte Chase gedehnt und stand aus seinem Stuhl neben Dante auf, um sich den drei anderen Junggesellen anzuschließen, als sie auf den Ausgang des Labors zugingen.

Einen Moment lang sah Rio ihnen zu, wie sie gingen. Aber als Nikolai hinter den anderen auf den Korridor hinaustrat, zischte Rio einen Fluch und schoss ihm nach.

„Niko, warte.“

Der Krieger ging einfach weiter, als hörte er ihn nicht. „Warte. Mann. Verdammt, Nikolai. Was zum Henker hast du?“

Als Chase, Brock und Kade stehen blieben und sich umsahen, winkte ihnen Niko weiterzugehen. Sie gingen weiter, bogen um eine Ecke im Korridor und verschwanden außer Sichtweite. Nach ein paar langen Sekunden endlich wirbelte Niko herum.

Das Gesicht, das Rio in dem grellweißen Tunnel anstarrte, war hart und unergründlich. „Ja. Hier bin ich. Was willst du?“

Rio wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Sein alter Freund strahlte eine Feindseligkeit aus wie eisige Winterkälte. „Hab ich etwas getan, dass du sauer auf mich bist?“

Nikolais scharfes, bellendes Gelächter hallte von den polierten Marmorwänden wider. „Fick dich. Mann.“

Er fuhr herum und begann davonzustapfen.

Rio brauchte nur einen Sekundenbruchteil, um ihn einzuholen. Er wollte den Krieger an der Schulter packen und ihn zum Stehenbleiben zwingen, aber Niko war schneller. Er wirbelte herum und pflügte in Rios Breitseite, seinen Unterarm gegen Rios Brustbein, und knallte seine Wirbelsäule gegen die harte Wand auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors.

„Willst du sterben, Hundesohn?“ Nikos Augen waren schmal vor Wut, bernsteingelbe Blitze zuckten im Blau seiner Iris. „Wenn du dich verdammt noch mal umbringen willst, dann ist das deine Sache.

Benutze mich nicht dazu, dir dabei zu helfen, hast du kapiert?“ Rios Muskeln waren angespannt und kampfbereit, seine Kampfinstinkte geweckt, obwohl er einem alten Verbündeten gegenüberstand. Aber als Nikolai redete, erlosch Rios so schnell aufgeflammte Kampflust sofort.

Plötzlich ergab es Sinn, dass Niko so wütend auf ihn war. Denn Nikolai wusste, dass Rio auf diesem böhmischen Berg zurückgeblieben war, weil er sich das Leben nehmen wollte. Wenn er das vor den fünf Monaten nicht gewusst hatte, dann wusste er es jetzt umso deutlicher.

„Du hast mich angelogen“, schäumte Niko. „Du hast mir in die Augen geschaut und mich angelogen, Mann. Du wolltest nie nach Spanien zurück. Was hattest du vor mit dem ganzen Vorrat an C-4, den ich dir gegeben habe? Dir umschnallen und dich damit hochjagen, wie so ein durchgeknallter islamistischer Selbstmordattentäter? Oder wolltest du dich für alle Ewigkeit in der Höhle verschütten lassen? Was sollte es sein, Amigo? Auf welche Weise wolltest du den Löffel abgeben?“

Rio antwortete nicht. Das brauchte er auch nicht. Von all den Ordenskriegern kannte Nikolai ihn am besten. Er wusste, was für ein feiger Schwächling er wirklich war. Er allein Wusste, wie nahe dran Rio gewesen war, allem ein Ende zu machen - selbst schon vor seiner Ankunft auf diesem tschechischen Berg.

Es war Niko gewesen, der Rio nicht erlaubt hatte, sich in seinem Selbsthass zu suhlen, der es im letzten Sommer zu seiner persönlichen Mission gemacht hatte, Rio aus seiner düsteren Abwärtsspirale herauszuholen. Niko war es gewesen, der Rio in den Wochen darauf mit nach oben genommen hatte, der für ihn gejagt hatte, wenn Rio zu schwach gewesen war, für sich selbst zu sorgen. Nikolai, der Bruder, den Rio nie gehabt hatte.

„Ja“, knurrte Niko verächtlich. „Wie ich schon sagte. Fick dich.“

Er ließ den Arm von Rios Brustkorb sinken und zog sich mit einem geknurrten Fluch zurück. Rio sah ihm nach, wie er ging, wie Nikos Stiefel auf dem polierten Marmor hallten, als er davonstürmte, um die anderen Krieger einzuholen, die schon auf dem Weg an die Oberfläche waren.

„Scheiße“, zischte Rio und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

Dieser Streit mit Nikolai war nur ein Beweis mehr, dass er gar nicht erst hätte zurückkommen dürfen - selbst wenn das bedeutete, das Problem Dylan Alexander jemand anderem zu überlassen. Er passte nicht mehr hierher. Er war inzwischen zum Außenseiter geworden, ein schwaches Glied in einer ansonsten soliden Stahlkette von mutigen Stammeskriegern.

Noch immer spürte er, wie ihm von dem Adrenalinstoß, der ihn vor ein paar Minuten, als es so aussah, als wolle Niko ihn auseinanderreißen, durchfahren hatte, die Schläfen dröhnten. Seine Sicht begann zu verschwimmen, als er so dastand. Wenn er sich jetzt nicht aufmachte und einen unbeobachteten Winkel fand, wo er den Nervenzusammenbruch überstehen konnte, der sich in ihm zusammenbraute, dann würde es nur Minuten dauern, das wusste er, bis er sich mit dem Arsch auf den Marmorfliesen des Korridors wiederfand. Und dass Lucan und die anderen aus dem Techniklabor herauskamen, um ihn anzustarren, als wäre er der Kadaver eines vor Wochen überfahrenen Tiers, war ehrlich gesagt eine Erfahrung, auf die er dankend verzichten konnte. RIO befahl seinen Beinen loszugehen, und mit einigen Schwierigkeiten gelang es ihm, den Weg zu seinem Privatquartier zu finden. Er stolperte hinein, schloss die Tür hinter sich und sackte dagegen, während eine erneute Schwindelwelle über ihn hinwegrollte. „Sind Sie in Ordnung?“

Die Frauenstimme kam irgendwo aus dem hinteren Teil der Wohnung. Zuerst war sie ihm fremd; sein Gehirn war völlig davon in Anspruch genommen, die einfachsten motorischen Bewegungen zu befehligen, und die helle, kristallklare Stimme schien nicht an diesen Ort mit seinen alten, dumpfen Erinnerungen zu gehören. Er stieß sich von der Tür ab und schleppte sich durchs Wohnzimmer zu seinem Schlafzimmer. Sein Schädel fühlte sich an, als wäre er kurz vorm Platzen. Heißes Wasser. Dunkelheit. Ruhe. Diese drei Dinge brauchte er jetzt, und zwar sofort.

Er zog sein Hemd aus und ließ es auf Evas lächerliches goldenes Samtsofa fallen. Ihren ganzen Mist sollte er verbrennen. Nur schade, dass er die verlogene Schlampe nicht gleich mit auf den Scheiterhaufen werfen konnte. Rio klammerte sich an seine Wut über Evas Verrat, ein schwacher Halt, aber das Einzige, was er in diesem Augenblick hatte. Er erreichte die offen stehende verglaste Flügeltür zum Schlafzimmer und hörte von innen ein leises Aufkeuchen.

„Oh, mein Gott. Rio, sind Sie okay?“

Dylan.

Ihr Name drang durch den Nebel seines Verstandes wie Balsam. Er sah auf und erblickte seinen unfreiwilligen Gast, wie sie auf der Bettkante saß, mit etwas Flachem und Rechteckigem im Schoß. Sie stellte das Objekt auf dem Nachttisch ab und eilte zu ihm hinüber, im selben Moment, als die Knie unter ihm nachgaben.

„Dusche“, schaffte er zu krächzen.

„Sie können doch kaum aufrecht stehen.“ Sie half ihm zum Bett hinüber, wo er dankbar zusammenbrach. „Sie sehen aus, als brauchten Sie einen Arzt. Ist hier jemand, der Ihnen helfen kann?“

„Nein“, keuchte er. „Dusche ...“

Es stand schon zu schlimm um ihn, um die besonderen Fähigkeiten des Stammes anzuwenden und mental das Wasser anzudrehen, aber das war auch nicht nötig. Dylan rannte schon nach nebenan ins Badezimmer. Er hörte das scharfe Zischen des Wasserstrahls, als die Dusche anging, und dann Dylans weiche Schritte auf dem Teppich, als sie wieder zu ihm herauskam, wo er in lächerlich hilfloser Haltung auf der Seite am Fußende des Bettes lag.

Nur vage registrierte er, wie ihre Schritte sich verlangsamten, je näher sie ihm kam. Er konnte kaum hören, wie sie hastig über ihm einatmete. Aber wie sie ausatmete, hörte er, zusammen mit einem leisen Ausruf voller Mitleid.

„Herr im Himmel.“ Zu lange war die Stille, die auf ihre geflüsterten Worte folgte, dann: „Rio ... mein Gott. Was für eine Hölle hast du da nur durchgemacht?“

Mit allerletzten Kräften öffnete Rio einen Spalt weit die Augen.

Großer Fehler. Das Entsetzen, das er in Dylans Blick sah, war unverkennbar. Sie sah die linke Seite seines Körpers an, die unverhüllt vor ihr lag ... seinen Brustkorb und Rumpf, den fliegende Splitter zerfetzt und ihm dabei fast das Fleisch von den Knochen gerissen hatten, verbrannt von den Flammen der Explosion, die er fast nicht überlebt hätte.

„Hat sie ...?“ Dylans leise Stimme verklang. „Hatte Ihre Frau etwas damit zu tun, was mit Ihnen passiert ist, Rio?“

Sein Herz setzte unvermittelt einen Schlag aus. Das Blut, das ihm wie eine Trommel in den Ohren schlug, wurde zu Eis, als er trübe in Dylans fragendes, betroffenes Gesicht hinaufstarrte.

„Hat sie dir das angetan, Rio?“

Er folgte Dylans ausgestreckter Hand, als sie nach dem Gegenstand griff, den sie auf dem Nachttisch abgestellt hatte. Es war ein gerahmtes Foto. Er musste das Bild unter dem Glas nicht sehen, um zu wissen, dass es ein Schnappschuss von Eva war, von einem Abendspaziergang, den sie am Charles River gemacht hatten. Eva, die lächelte, Eva, die ihm sagte, wie sehr sie ihn liebte, während sie hinter seinem Rücken mit dem Feind des Ordens konspirierte, um ihre eigenen selbstsüchtigen Ziele zu erreichen.

Rio knurrte auf, als er daran dachte, wie dumm er gewesen war. Wie blind er gewesen war.

„Das geht dich nichts an“, murmelte er, immer noch trieb er hilflos in der Dunkelheit, die aus den Trümmern seines zerbrochenen Verstandes zu ihm aufstieg. „Du weißt gar nichts über sie.“

„Sie war es, die mich zu dir geführt hat. Ich habe sie auf dem Berg in Jicín gesehen.“

Ein absurder Verdacht begann in ihm zu brodeln, verwandelte seinen Ärger in tödliche Wut. „Was meinst du, du hast sie gesehen?

Hast du Eva gekannt?“

Dylan schluckte und zuckte leicht die Schulter. Sie hielt ihm den Bilderrahmen entgegen. „Ich hab ihren ... Geist dort gesehen. Sie war dort mit dir auf dem Berg.“

„Blödsinn“, knurrte er. „Rede mir nicht von dieser Frau. Sie ist tot und dort, wo sie hingehört.“

„Sie hat mich gebeten, dir zu helfen, Rio. Sie ist extra zu mir gekommen. Sie hat mich gebeten, dich zu retten ...“

„Ich sagte, das ist Unsinn!“, brüllte er.

Wilde Wut riss seinen Körper von der Matratze hoch wie eine Viper vor dem Angriff. Er schlug Dylan den Bilderrahmen aus der Hand, und seine Wut schleuderte ihn in übernatürlicher Geschwindigkeit durchs Zimmer. Er krachte in den großen Wandspiegel, der dem Bett gegenüber hing; dieser zerbarst in einer Explosion glänzender Glasscherben, die wie ein Hagel winziger Rasierklingen durchs Zimmer stoben.

Er hörte Dylan aufschreien. Aber erst, als er den süßen Wacholderduft ihres Blutes roch, erkannte er, was er getan hatte.

Sie presste sich die Hand an die Wange, und als ihre Finger sich lösten, waren sie scharlachrot verschmiert von einer kleinen, blutenden Schnittwunde direkt unter ihrem linken Auge.

Es war der Anblick dieser Wunde, der Rio aus seiner Abwärtsspirale riss. Dylan verletzt zu sehen ernüchterte ihn so schlagartig, als hätte man ihm einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gekippt.

„Ach, Cristo“, zischte er. „Tut mir leid ... tut mir leid.“

Er näherte sich ihr, wollte sie berühren, um zu sehen, wie schlimm er sie verletzt hatte - aber sie wich mit weit aufgerissenen Augen, in denen sich das Entsetzen spiegelte, vor ihm zurück.

„Dylan ... ich wollte nicht ...“

„Bleib weg von mir.“

Er streckte die Hand aus, wollte sie nur beruhigen, ihr zeigen, dass er ihr nichts Böses wollte.

„Nein.“ Sie zuckte zusammen und schüttelte wild den Kopf. „Oh, mein Gott. Fass mich bloß nicht an.“

Madre de Dios.

Jetzt starrte sie ihn in äußerstem Entsetzen an. Sie zittert, ihre Augen waren voller Furcht und Verwirrung auf ihn gerichtet.

Als seine Zunge über die scharfen Spitzen seiner ausgefahrenen Fangzähne fuhr, verstand Rio den Grund ihres Entsetzens. Er stand vor ihr, und er war ein Vampir. Er hatte es ihr gesagt, aber ihr menschlicher Verstand hatte sich geweigert, es zu glauben.

Jetzt glaubte sie ihm.

Sie konnte die Wahrheit selbst sehen, anhand der physischen Veränderungen, die ihn von einem vernarbten Wahnsinnigen zu einer Kreatur aus einem Albtraum verwandelt hatten. Unmöglich, die Fangzähne zu verstecken, die sogar noch größer wurden, als sein Hunger nach ihr anschwoll. Unmöglich, die geschlitzten Pupillen zu verbergen, als das bernsteinfarbene Glühen des Hungers nach Blut seinen Blick überschwemmte.

Er sah den kleinen Schnitt an, das Rinnsal von Blut, das an ihm herunterrann, so rot gegen die helle Haut von Dylans Wange, und er konnte kaum noch einen zusammenhängenden Gedanken fassen.

„Ich hab versucht, es dir zu sagen, Dylan. Das bin ich. Genau das.“

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